Vier Monate, eine Erkenntnis und keine Lösung
Agarrate Catalina: "La violencia" - "Die Gewalt" (Übersetzung)
"[...]
Ich komme von der Müllhalde, die dieses System erschaffen hat. Die Marktregeln haben mich nutzbar gemacht.
Ich bin ein Haufen Scheiße, der aus dem Abfluss hochkommt. Ich bin ein Albtraum, aus dem du nicht erwachen wirst.
Du verachtest mich, du verpetzt mich, aber zerrissen brauchst du mich.
Ich bin Teil eines Handels, den niemand gemacht hat, den aber alle benutzen. Im russischen Roulette bin ich die Kugel, die dich getroffen hat.
Ich stamme aus einer Reihe armseligen Elends. Habe eine Seele, die Gift aus einer anderen Generation eitert.
[...]"
(https://www.youtube.com/watch?v=KQHnFMy7lQc)
Ja, dieser Blogartikel hat lange auf sich warten lassen. Das liegt weder daran, dass ich in den letzten Monaten nichts erlebt hätte, noch daran, dass ich keine Lust gehabt hätte, einen neuen Eintrag zu schreiben. Im Gegenteil: Seit ich aus meinem Januarurlaub zurückgekommen bin und wieder mit der Arbeit im Zentrum begonnen habe, verspüre ich ein derart großes Mitteilungsbedürfnis, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich müsste platzen oder explodieren oder implodieren oder wenigstens mal ein paar Minuten lang sehr laut schreien. Und das am liebsten nicht in die unbewegte Luft eines leeren Raumes, sondern direkt in die Trommelfelle der westlichen Weltbevölkerung hinein. Mir ist aber bisher noch keine sinnvolle Möglichkeit eingefallen, effektiv die gesamte westliche Weltbevölkerung auf einmal zu erreichen. Und - und das ist das sehr viel wichtigere Problem - ich habe das Gefühl, dass alles, was ich so unbedingt mitteilen möchte, den Realitäten dieses Landes nicht mehr gerecht wird, sobald ich versuche, es tatsächlich in Worte zu fassen. Und mit "den Realitäten dieses Landes" meine ich hauptsächlich das, was ich Tag für Tag in Florencio Varela sehe, höre, miterlebe oder erzählt bekomme.
Bisher habe ich in diesem Blog über das berichtet, was ich persönlich in meinem Freiwilligendienst erlebe, was ich auf meiner Arbeit und in meiner Freizeit mache und welche Gedanken und Gefühle ich dabei so empfinde. Dabei habe ich von Anfang an versucht, auch einen Hauch von der Atmosphäre dieses Landes, der Menschen, der Kultur und der Gesellschaft in meine Erzählungen hineinzupusten und ich denke, das hat zum Teil auch funktioniert. Mit allem, was ich aber mittlerweile kenne und weiß und sehe, kann ich es einfach nicht mehr mit mir, meinem Gewissen und der Art und Weise, wie ich meine Rolle als Freiwillige wahrnehme, vereinbaren, diese kleine Plattform dafür zu nutzen, euch von meinen Wochenendausflügen und Freizeitbeschäftigungen zu erzählen. Und dabei vielleicht mal in einem Nebensatz zu erwähnen, dass ich finde, dass meine Kolleg*innen einen tollen Job machen.
Was hat sich also geändert? Der Auslöser für diesen doch sehr starken Wandel meiner Perspektive war mein Urlaub (von dem ich hier auch ganz bewusst nicht berichtet habe.) Ich hatte die Sommerferien, also den Januar über, frei und bin mit einer kleinen Gruppe von anderen Freiwilligen einmal quer durch ganz Argentinien gereist. Diese Reise war fantastisch, ich habe wunderschöne und beeindruckende Landschaften gesehen, lustige und absurde Momente erlebt und diese drei Wochen unglaublich genossen. Und dann ging ich Anfang Februar wieder zur Arbeit. Und fand mich in der Situation wider, Menschen, von denen viele noch nie die Provinz Buenos Aires verlassen haben, berichten zu müssen, dass ich innerhalb von drei Wochen mal eben ganz Patagonien durchquert und dabei keine der wichtigen Touriattraktionen ausgelassen hatte, nachdem ich gerade mal sechs Monate in dem Land verbracht hatte, in dem sie aufgewachsen sind und von dem sie bisher so wenig sehen durften. Und das war verdammt schwierig. Ich bereue es nicht, diesen Urlaub gemacht zu haben, aber gleichzeitig hat mir das Zurückkommen eine so heftige Backpfeife der Realität verpasst, dass ich mich auch ziemlich geschämt habe. Vielleicht ist Scham nicht ganz der richtige Begriff, aber jedenfalls ist mir sehr plötzlich und sehr deutlich bewusst geworden, wie heftig sich mein Leben und alles, was ich von zu Hause gewohnt bin, von dem der Menschen, die in Florencio Varela wohnen, unterscheidet.
Dazu kommt, dass ich, je länger ich hier bin, immer mehr Dinge mitbekomme, die mir am Anfang in all der Überforderung und Reizüberflutung noch nicht aufgefallen sind. Ich spreche mittlerweile viel besser Castellano, wodurch ich die Dinge, die mir erzählt werden, wirklich verstehen und auch gezielter nachfragen kann. Und ich habe jetzt eine viel intimere und persönlichere Beziehung zu einigen meiner Kolleg*innen und teilweise auch zu den Kindern und Jugendlichen, was dazu führt, dass ich einen viel umfassenderen Einblick in ihr Leben und ihre Gedanken bekomme, und mich genau dieser auch viel mehr persönlich beschäftigt, weil mir diese Menschen wichtig sind, weil ich gerne Zeit mit ihnen verbringe und weil sie mir ans Herz gewachsen sind.
Naja und jetzt sitze ich hier vor meinem Laptop mit einer Erkenntnis, die mich seit mittlerweile vier Monaten begleitet und fast täglich beschäftigt. Seit vier Monaten versuche ich immer wieder Wege zu finden, dieser Armut und ihrer unfassbaren Komplexität Ausdruck zu verleihen und darzustellen, wieviel die Menschen hier leisten müssen, um sich trotzdem so unglaublich wenig leisten zu können. Und bisher bin ich an einer Lösung gescheitert. Immer wieder komme ich zu dem Schluss, dass eine völlig unkommentierte Dokumentation der Realität in Form von Bildern und Videos das Einzige wäre, das ernsthaft das rüberbringen könnte, was hier Wirklichkeit ist. Aber ich habe nicht vor, mit meinem Handy durchs Viertel zu laufen und meine Kamera auf alles zu halten, was ich aus meiner deutschen Mittelschichtsperspektive besonders "beeindruckend arm" finde. In dieser Armut leben Menschen und es wäre einfach respektlos, ihr Leben auf diese Art und Weise auszustellen, um "meiner Familie und meinen Freunden mal zu zeigen, wie es in Argentinien wirklich ist".
Ich sehe mich also vor einer mehr oder weniger unlösbaren Aufgabe: Ich möchte eine Wirklichkeit darstellen, zu deren Darstellung ich mich eigentlich in keiner Weise berechtigt fühle, weil ich sie - soviel Zeit ich auch in ihr verbringe - immer nur besuche und weder in ihr aufgewachsen bin, noch tatsächlich in ihr lebe.
Der einzige logische Schluss ist also, genau die Menschen, die diese Erfahrung wirklich haben, berichten zu lassen. Dabei sehe ich aber eine ganz entscheidende Schwierigkeit: Manchmal stelle ich mir vor, hier von der ein oder anderen Anekdote zu berichten und habe dabei das Gefühl, ich müsse jedes noch so kleine Detail beschreiben. Jede kaputte Haustür, jede Pfütze auf der unasphaltierten Straße, den Geruch des Plastikmülls, der irgendwo in der Nähe verbrannt wird, die kaputte Klospülung, der man mit einem Eimer Wasser nachhelfen muss, die Wellblechdächer und Gitter vor jedem einzelnen Fenster, das dreckige Fell des Straßenhundes an der Ecke, bei dem ich nicht einschätzen kann, ob er schläft oder gar nicht mehr lebt, das Klatschen, Pfeifen und Steinewerfen von Menschen vor einem Zaun, das die fehlenden Hausklingeln ersetzt. Und all diese Dinge hätten eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun, die ich erzählen möchte, aber ich halte sie für notwendig, um wirklich abzubilden, was ich mitteilen möchte. Jemand von hier würde diese ganzen Details wahrscheinlich überhaupt nicht erwähnen, weil sie für die Menschen hier einfach völlig normal und selbstverständlich sind und sie ja nicht wissen können, dass all das in Deutschland nicht zum Lebensstandard gehört.
Wie geht es hier jetzt also weiter, wenn ich mit keiner der Optionen, die mir einfallen, so richtig zufrieden bin? Ehrlich gesagt weiß ich es auch nicht so genau. Ich möchte auf jeden Fall - wie am Anfang dieses Eintrags - Musiktexte aus Argentinien nutzen, um Dinge zu beschreiben. Und ich werde auch weiterhin versuchen, einige Geschichten, Erlebnisse, Gedanken und Erfahrungen in einer Art und Weise aufzuschreiben, die mir respektvoll und in irgendeiner Form sinnstiftend erscheint. Und vielleicht gibt es auch einfach manche Dinge, die sich für einen Blog nicht eignen und von denen ich dann in aller Ausführlichkeit erzählen kann, wenn ich euch allen wieder persönlich begegne.
Liebe Maren
AntwortenLöschenLeider haben viele Menschen kein Mitgefühl, wie Du ! Sind eher noch machtgieriger und rücksichtsloser gegen ihre Mitmenschen, wie die Kriege n der Welt zeigen. Da hift es nur, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden. Und leider braucht es unendlich viel Geduld, um die Armen aus dieser Lage zu befreien.
Immerhin ist die Armut trotz steigender Bevölkerung zurückgegangen. Aber zu Lasten der Umwelt, und die schon genug haben, wollen immer mehr.
Ein Dilemma!
Oma Susanne und Opa Bernd
Eindrucksvoll. Dir fallen sonst allermeistens passende Worte ein. Da gehört was dazu, einzugestehen, dass man an seine Grenzen kommt, gerade in Bereichen, in denen man eigentlich echt gut ist. Ich finde, gerade dadurch, dass du nichts explizit beschreibst, kommt es sehr gut rüber. Uns geht es schon gut hier oben... LG Paul
AntwortenLöschenSehr beeindruckend, du schaffst es trotzdem, uns einen Einblick zu verschaffen, auch wenn dir die Worte dazu fehlen, weil es einen emotional so überwältigt.
AntwortenLöschenLG Gabi 3