Endlich WLAN, endlich Bilder und endlich wieder Klopapier!
Ist die Zunge abgeheilt, kommt der Sonnenbrand geeilt.
Ich saß in dem unerwartet bequemen Sitz des Reisebusses, in dem wir gerade unsere zwölfstündige Rückreise aus San Luis angetreten hatten, als dieses kleine Stück genialer Poesie spontan in mein Gehirn schwebte. Obwohl, wenn ich genauer darüber nachdenke, fiel es mir glaube ich schon etwas früher ein. Vielleicht, als ich gerade auf einem dieser vier brillenlosen Toilettenräder saß, die ich mir mit 60 anderen Frauen teilte, mühsam versuchte, die nicht abschließbare und sich immer wieder von selbst öffnende Kabinentür mit einer Hand zuzuhalten und feststellen musste, dass ich mal wieder vergessen hatte, Toilettenpapier aus unserem Raum mitzunehmen, das ich dann in die überquillende abgeschnittene Hälfte einer Flasche hätte stopfen können, aus der unser improvisierter Mülleimer bestand. Vermutlich setzte dann wenige Sekunden nach dieser literarisch hochwertigen Eingebung die Realisation ein, dass dieses merkwürdig elastische Band, das aus der Wand hing, nie wirklich eine Klospülung sein wollte und sich in diesem Moment wahrscheinlich zum fünften Mal an diesem Morgen dazu entscheiden würde, diese ihm aufgezwungene Aufgabe endgültig und mit überzeugender Entschlossenheit zu verweigern.
Warum ich in San Luis auf einer mit widerlichem Gestank ausgestatteten Toilette saß, in dem Wissen, dass ich mich drei Tage lang weder waschen noch duschen könnte?
Wir hatten ein langes Wochenende und Angela und ich sind von Freitag bis Montag mit einer großen Gruppe unseres Projekts zu einem Treffen für Frauen und Angehörige der LGBTQ+-Community gefahren, das jedes Jahr an einem anderen Ort Argentiniens stattfindet. In San Luis, einer kleinen Stadt im Westen des Landes, waren wir in Schulen untergebracht, haben dort auf dem Boden geschlafen und konnten an ganz vielen verschiedenen Angeboten teilnehmen. Es gab einen großartigen Markt, auf dem ich mir nun endlich einen eigenen Matebecher zugelegt habe, und es wurden wahnsinnig viele Workshops unter anderem zu den Themen Feminismus, Identitäten, Sexualitäten und Gewalt angeboten.
Ich habe mir am ersten Tag sofort einen sehr unschönen Sonnenbrand in meinem Gesicht zugezogen, der mich aussehen lassen hat, als hätte ich mich erst vor wenigen Minuten von einem heftigen Heulkrampf erholt. Aber jetzt habe ich immerhin gelernt, dass die Sonne in Argentinien sehr viel stärker ist als ich es gewohnt bin, selbst wenn das Wetter eigentlich ziemlich kalt und windig ist.
Das absolute Highlight unseres Ausfluges war aber die "Marcha", eine so große Demonstration für Frauen- und LGBTQ+-Rechte, dass über sie in den nationalen Medien berichtet wurde. Da ich in meinem bescheidenen Westerwälder Dasein ohnehin noch nicht an so vielen Demos teilgenommen habe, fand ich das Gefühl, Teil einer so großen Menschenmenge zu sein, die als Ganzes für eine gemeinsame Sache einsteht, grundsätzlich schon einfach großartig. Als ich dann aber noch eine Fahne in die Hand gedrückt bekommen habe und Angela und ich anfingen, uns die spanischen Gesänge erklären zu lassen, um sie dann lautstark mitzugrölen, war ich trotz ekliger Klos, schnarchender Mitbewohnerinnen und dem leichten Schmerzen meines Rückens, der nachts nur durch zwei dünne Decken vom Boden getrennt wurde, einfach sehr glücklich darüber, nicht mehr auf einer bequemen Matratze in einem Zimmer in Montabaur zu schlafen, das ich mir mit niemandem teilen muss, zuverlässig und selbstverständlich mit WLAN und funktionierenden Klospülungen versorgt.
Ich meine, das war ein Moment der absoluten Euphorie, wir haben uns schon wahnsinnig über diesen kleinen weißen Kasten gefreut, der seit heute Vormittag in unserem Wohnzimmer steht und bedeutet, dass wir uns abends einfach mal einen Film anschauen können, wenn wir möchten, oder diesen einen blöden YouTube-Kanal schauen können, der einen nach einem anstrengenden Arbeitstag abschalten lässt.
Ja, liebe IERP, liebe Evangelische Freiwilligendienste, liebe Maren von vor 10 Wochen, ich habe es ehrlich verstanden: WLAN ist ein großes Privileg!
Obwohl ich nur kurz hinzufügen möchte, dass sowohl unseren Kolleg*innen als auch den Kindern und Jugendlichen in unseren Projekten immer schockiert die Gesichtszüge entgleist sind, wenn sie erfahren haben, dass wir kein Internet in unserer Wohnung haben.
So einen besonders euphorischen Moment hatte ich aber an diesem Wochenende noch einmal. Kennt ihr diese Augenblicke, in denen man sich denkt: "Wow, das ist gerade so eine richtige Filmszene"?
Liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle wünsche ich mir, dass du dir die folgende Beschreibung so bildlich wie möglich vorstellst und nach Beenden des Lesens dieses Blogartikels unter demselbigen einen Kommentar verfasst, in dem du mir mitteilst, mit welchem Song du die beschriebene Szene in einem Film untermalen würdest.
Angela und ich sind in San Luis mit einigen Kolleginnen aus ihrem Zentrum essen gegangen und haben dort erfahren, dass sie am folgenden Nachmittag noch einen Naturpark etwas außerhalb der Stadt besuchen wollten. Diesem Vorhaben durften wir uns anschließen. Wir hörten zunächst noch, wie eine der Frauen fragte, wie viele wir denn nun sind, um auszurechnen, wie viele Taxen wir bestellen müssten. 11 Personen. Drei Autos. Dann brach eine kleine Diskussion aus, von der wir nichts verstanden, für uns wirklich nichts Ungewöhnliches mehr, wir haben uns mittlerweile völlig daran gewöhnt, nicht zu verstehen, worüber Menschen um uns herum und im Zweifel auch mit uns überhaupt sprechen. Wir verlassen also wenig später das Restaurant und warten auf der Straße auf die drei Autos, die uns zu unserem Ausflugsziel bringen sollten.
Es kam nur ein Auto. Aber kein gewöhnliches Taxi, wie man es sich in Deutschland vorstellen würde. Es kam ein Auto mit Ladefläche. Und auf diese Ladefläche kletterten nacheinander sechs von uns, quetschten uns mit angewinkelten Beinen nebeneinander und ab diesem Moment existierte auf meinem Gesicht für die nächsten 20 Minuten nur noch ein Dauergrinsen. Das Auto fährt los, zuerst ziemlich langsam über die holprigen und schlecht asphaltierten Viertel von San Luis, die genauso aussehen, wie die von Florencio Varela, und in denen uns viele Menschen belustigt hinterherschauen. Diese Viertel lichten sich aber ziemlich schnell, wir fahren auf breitere Straßen und werden immer schneller. Die Sonne strahlt auf mein vom Vortag völlig rot verbranntes Gesicht und der kalte Fahrtwind zerstört meine Frisur, während sich vor meinen Augen San Luis auflöst und ich das erste Mal seit Wochen keine unendlichen, quadratischen Häuserblöcke mehr sehe, sondern weite Felder und trockene Wiesen, hinter denen sich Berge in den völlig blauen Himmel schrauben. Und ich verspüre das etwas einfältige Bedürfnis, so etwas Sinnloses wie "NATUR" in die Luft zu schreien. Und dann fahren wir genau in diese Berge hinein und sind plötzlich von Felswänden umgeben, neben der Straße schlängelt sich ein kleiner Bach entlang, die anderen witzeln darüber, dass wir uns doch einfach hier duschen könnten und ich kann sie über den dröhnenden Wind in meinen Ohren noch viel schlechter verstehen als sonst, aber ich lache einfach mit. Und mir ist eigentlich völlig egal, was genau wir uns da oben jetzt anschauen, weil diese Fahrt sich ein kleines bisschen so angefühlt hat, als wäre gerade ein Traum Wirklichkeit geworden.
Ja, ich bin auf der Ladefläche eines Autos mitgefahren, sicher nicht das Gehaltvollste und Intelligenteste, das ich an dieser Stelle über meinen Freiwilligendienst berichten könnte. Aber ich hatte an diesem Tag wirklich den Gedanken, dass sich das gesamte Jahr in Argentinien alleine für diese 20 Minuten gelohnt hat, was auch immer in den nächsten zehn Monaten noch passiert. Naja, und letztendlich war dieser Naturpark auch eine ziemliche Touriveranstaltung, es gab dort einen See, von Bergen umgeben, der sehr schön war, aber uns wie allen anderen dort hauptsächlich als Fotokulisse gedient hat. Wie auch immer, denkt an die Filmmusik, die ihr unter die Szene legen würdet, das finde ich super spannend! Für mich wäre es übrigens "More than a feeling" von Boston.
Zurück zu unserem frisch erstandenen WLAN, das bedeutet nämlich, dass ich jetzt ganz entspannt von meinem Laptop aus Bilder in diesem Blog hochladen kann. Die Idee, die Dinge immer nur mit Worten zu beschreiben, hat mir zwar über die Zeit immer besser gefallen, und ich möchte auch weiterhin hauptsächlich über meine Gedanken und Erlebnisse schreiben, ich möchte an dieser Stelle aber trotzdem auch ein paar Fotos mit euch teilen, damit ihr euch mein Leben hier ein bisschen besser vorstellen könnt.
Also viel Spaß bei der kleinen Galerie durch meine letzten zwei Monate (übrigens ohne weiter sinnvolle Reihenfolge oder Ordnung)!
Die Demo in San Luis |
Eines unserer Touribilder des Sees in San Luis |
Quasi der "Colectivo de la Esperanza": Der alte Bus, der auf dem Gelände des Zentrums steht und der ein sehr beliebter Spielort ist |
Arbeit in der Bäckerei: Jeden Vormittag produzieren wir 400 Exemplare von Gebäcken, die nachmittags an die Familien des Viertels verteilt werden. |
Die Straße, in der sich unsere Wohnung befindet. Ungefähr so sieht das Zentrum von Quilmes aus, in dem wir leben. |
Hey Maren!
AntwortenLöschenIch machs kurz: Ich liebe deinen Blog und deine Texte und schaue jeden Tag mindestens 2x hier vorbei.
So, jetzt zu deiner Aufgabe: "Diese Tage (feat. Dante Thomas)" von Kris
xoxo aus Minga
Liebe Maren, toll dein Blog. Also ich würde das Lied "Life Is Life" wählen, denke ich... GLG Kerstin
Löschen"BORN TO BE WILD" aus dem Film "Easy rider".
AntwortenLöschenMusste direkt an die Filmmusik aus Jurassic Park denken und in meiner von deinen vor Metaphorik triefenden Worten reichlich genährten Vorstellung war kurz hinter dem Ortsschild von San Luís auch ein Brontosaurier. Danke für die Bilder, Rechtschreibung war auch sehr gut!
AntwortenLöschenLG Paul
Hallo Maren, mir viel dazu als Oldie ein Oldie ein: On the road again von Willi Nelson.
AntwortenLöschenHabe in Argentina auch einen Sonnenbrand gehabt, in der Mittagssonne. Hatte mich nach der Nachtwache auf dem Schiff zum Schlafen auf das Sonnendeck in den Schatten gelegt und nicht bedacht, dass die Sonne wandert. Oje das war dann ziemlich heftig. Ja und die Toiletten waren schon gewöhnungsbedürftig, im öffentlichen Bereich offen mit Sichtschutz, aber ohne Papier und bestanden aus einer Keramikschüssel, über die man sich hocken musste, aber das war in Südamerika anders als bei uns. Wenn die Hafenarbeiter unsere Toiletten benutzten, dann hockten sie sich auf die Schüssel. Das Ergebnis kann man sich gerne ausmalen!
Oje, so'ne Musik Aufgabe für mich. Ich hab gedacht und überlegt und nochmal gedacht und es wurde immer komplizierter. Dann bin ich wieder zum Anfangsimpuls und entscheide mich für:
LöschenGoing up the country von Canned Heat.
Das hat was vom Aufbruch aufs Land.
Puhh geschafft!
Ich bin neben den vermittelten Inhalten immer wieder von deinem Stil beeindruckt. Des haste net von mir!.
Gute Zeit.
Papa