Überflutung

Mustafa Yoda & DJ Manuvers: "El niño" ("Der Junge")

"Er ist neun und hat Schlamm an seinen Füßen, wenn es regnet."

[...]

Der Herbst ist mittlerweile in Buenos Aires angekommen. Auch wenn es noch Tage gibt, an denen ich meine Jacke ausziehe und in T-Shirt draußen herumlaufe, gibt es jetzt immer wieder richtig kalte Tage und Nächte. Die Temperaturen liegen dabei im Normalfall über 10 Grad, die sich aber durch die hohe Luftfeuchtigkeit deutlich kälter anfühlen als 10 Grad in Deutschland. Und jetzt regnet es seit etwa zwei Wochen ziemlich viel. Die letzten Nächte gab es teilweise auch recht heftige Gewitter. In Quilmes, wo ich wohne, heißt das für mich, dass ich hin und wieder über einen Straßenrand springe und dabei trotzdem nasse Füße bekomme, weil das Wasser nur so vorbeiströmt, dass ich vielleicht mal nachts von einem lauten Donnern aufwache und als geborene Frostbeule ein bisschen unter unseren undichten Fenstern und Türen leide. Wir haben aber mittlerweile von unserer Organisation zwei mobile Heizungen bekommen, die man einfach in die Steckdose stecken kann, können also sogar richtig heizen, wenn es nötig ist. Das ist also kein Problem mehr.

Für die Menschen in Varela, die in dem Viertel leben, in dem ich arbeite, bedeutet dieses Wetter etwas völlig anderes. Mein Weg vom Bahnhof zum Zentrum ist mittlerweile eher zu einer Parcours-Herausforderung geworden. Da nur wenige Hauptstraßen asphaltiert sind, begibt man sich, sobald man von ihnen abweicht, in eine regelrechte Schlammschlacht, bei der man tatsächlich jeden Schritt bewusst setzen und manchmal einfach hoffen muss, dass der Schuh nicht in den Matsch einsackt.



Wir haben gerade ein langes Wochenende, da der 25. und 26. Mai hier Feiertage sind, ich war also seit einigen Tagen nicht mehr in Varela. Und lese dann gestern Folgendes im Whatsapp-Status einer Arbeitskollegin von mir:


Guten Abend, ich möchte um die Unterstützung von euch allen bitten, meinen Nachbarn zu helfen, die leider ihre Sachen in dieser Überflutung verloren haben...
Wir haben eine Familie mit sechs Kindern, alle Jungs, die ALLES verloren hat, eine andere Nachbarin hat auch nichts mehr, sogar die Matratzen hat sie verloren, und so geht es noch vielen Weiteren.
Morgen werde ich in der Straße 540 zwischen 529 und 531 Nummer 1552 (so sehen im Viertel alle Adressen aus, da die Straßen keine Namen haben) Spenden von denjenigen annehmen, die etwas spenden wollen. Ich habe heute viele Videos von euch erhalten, die zeigen, wie eure Häuser aussehen. Ich hoffe, ich kann allen helfen, ich tue alles, was ich kann, um Sachen zu sammeln, um sie an die zu verteilen, die alles verloren haben.
Ich brauche Supermarktartikel zum Putzen, Schuhe, Kleidung, Matratzen, Decken, Betten, alles, was ihr spenden könnt, Viele haben alles verloren.
Lasst uns helfen, man weiß nie, wie das Leben verläuft...
Morgen werde ich ab 9 Uhr alles annehmen, was ihr spenden möchtet. Ich danke euch jetzt schon von ganzem Herzen und hoffe, dass Gott das vermehrt, was ihr gebt.
Morgen werden wir mit meiner Schwester, unseren Schwägerinnen, Töchtern und Nichten da sein, um die Sachen anzunehmen und zu sortieren, um sie dann zu den Häusern zu bringen. Lasst mich nicht alleine, helfen wir denen, die es am meisten brauchen, jetzt schon vielen Dank.
Helft mir, das ist den Gruppen zu teilen...


Sowas haben wir alle schon öfter in Nachrichten gesehen und ja auch nicht zuletzt in Deutschland schon auf eine ähnliche Art und Weise erlebt. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass hier gerade keine seltene, unerwartete und dramatische Naturkatastrophe stattfindet, sondern dass es ein paar Tage lang ein bisschen heftiger regnet. Das ist auch für den argentinischen Herbst normal und die stärkste jährliche Regenzeit liegt noch vor uns. Die Lebensumstände in Varela (und übrigens sicherlich auch vielen anderen Teilen des Großraums Buenos Aires, ich will nur nicht verallgemeinern, wenn ich nur die eine Situation wirklich kenne) sind aber teilweise so prekär, die Häuser so undicht, die Dächer so instabil und von Lücken durchsetzt und ein Ablaufsystem für Regenwasser nicht vorhanden (wie gesagt: Es gibt mehr unasphaltierte als asphaltierte Straßen), dass ein so reguläres Wetterereignis für viele Menschen die absolute Katastrophe bedeutet. Als ich diesen Text sehe, schreibe ich ganz schockiert meinem Kollegen Leo, um nachzufragen, ob das eine Ausnahmesituation ist oder nicht. Er antwortet nur: Ja, das ist normal.
Heute ist Sonntag, morgen bin ich also das erste Mal wieder im Viertel und bin ein bisschen nervös vor dem, was mich dort erwartet und vor allem vor dem, was meine Kolleg*innen und die Kinder und Jugendlichen von zu Hause erzählen werden.

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