Diese verdammte WM

"Plata y miedo nunca tuvimos"
"Geld und Angst hatten wir nie"


Als ich mich das erste Mal mit der Fußballweltmeisterschaft in Qatar auseinandergesetzt habe, war mir noch gar nicht bewusst, dass sie in die Zeit meines Freiwilligendienstes in Argentinien fallen würde. Also habe ich ziemlich schnell die Entscheidung getroffen, diese WM zu boykottieren. Ich muss dazusagen, dass mir diese Vorstellung aber auch wirklich nicht besonders schwerfiel, so wahnsinnig fußballbegeistert war ich nie.

Die Weihnachtsdeko im Hochsommer nahm also langsam zu, es wurden immer mehr argentinische Flaggen aufgehängt und dann kamen die ersten Spiele. Das größte Problem daran, dass ich überhaupt nicht wusste, was bei der WM gerade passiert, war eigentlich, dass meine Kolleg*innen ständig fragten, wie Deutschland gespielt hat, und ich absolut keine Ahnung hatte. Tatsächlich habe ich es erst Tage später mitbekommen, als Deutschland rausgeflogen war - und es hat mich auch nicht besonders traurig gemacht. Wir haben unter den Freiwilligen noch Sprüche darüber gemacht, dass das schlechte Fußballspielen einfach der deutsche Weg war, diese WM doch noch zu boykottieren.

Bei der Seleccion, also der argentinischen Nationalelf, sah das Ganze aber etwas anders aus. Und das hat man gemerkt. Auf der Arbeit, in Bars, eigentlich einfach überall, war die WM jetzt Thema. Die blau-weiß gestreiften Trikots wurden zu Alltagsoutfits und in der Fußgängerzone von Quilmes hatte man alle 20 Meter die Auswahl zwischen 50 Shirts mit der Nummer 10 - und zwar ausschließlich der Nummer 10, die natürlich Lionel Messi gehört. An das Trikot eines anderen Spielers zu kommen, war gar nicht so einfach. Aber das habe ich auch gar nicht versucht, ich wollte ja boykottieren.

Und ich habe es bis zum Achtelfinale ausgehalten.

Mit vier anderen Freiwilligen saß ich sogar quasi protestierend während des letzten Gruppenspiels Argentiniens in einem Piercingstudio und habe mir einen Conch stechen lassen. Und Argentinien hat - kein Witz - exakt in dem Moment ein Tor geschossen, als die Nadel mein Ohr durchbohrte. Das bekam ich mit, weil das Spiel natürlich im Piercingstudio auf einem Bildschirm lief, den wir mehr oder weniger erfolgreich zu ignorieren versuchten. Auf dem Heimweg waren die Straßen von Buenos Aires dann mit Gebrüll, Musik und Hupen gefüllt.

Und ab dem nächsten Spiel habe ich entschieden, mich zumindest ein kleines bisschen von dieser Fußball-Leidenschaft mitreißen zu lassen. Auch wenn ich es nicht ganz geschafft habe, mein schlechtes Gewissen abzuschalten, aber es ist schwierig, etwas zu ignorieren, das ein ganzes Land offenbar so sehr in Bewegung setzt. Ich bin mir nicht sicher, wie gut man sich das aus deutscher Perspektive vorstellen kann, immerhin wird pünktlich zu jeder WM ja auch halb Deutschland zu Fußballexpert*innen - und das ganz leidenschaftlich vom heimischen Sofa aus. Aber in Argentinien hat der Fußball eine andere Bedeutung, er ist nicht einfach nur ein Sport, den man sich gerne anschaut. Ich will mir nicht anmaßen, das sozialgesellschaftlich richtig analysieren zu können. Aber meinen ganz subjektiven Beobachtungen nach hatte ich das Gefühl, dass es zwei Dinge gab, die ganz entscheidend dazu beitrugen, dass scheinbar das persönliche Glück vieler Argentinier*innen (und tatsächlich auch manche Wirtschaftsprognosen für 2023) vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Nationalmannschaft abhing.


Ich glaube, es geht oft um die Hoffnung, die mit der klassischen "Messi-Legende" einhergeht. Lionel Messi wurde in einem armen Viertel der Stadt Rosario geboren und ist in einer Realität aufgewachsen, die wohl ähnlich aussah, wie die der Kinder und Jugendlichen in den Projekten, in denen wir als Freiwillige arbeiten. Und er ist zu einem der größten Fußballer aller Zeiten geworden. Und er ist nicht der Einzige. Viele sehr erfolgreiche argentinische Spieler haben ähnliche Geschichten, die vor allem (aber ich glaube, nicht ausschließlich) Kindern und Jugendlichen ein Bild von Aufstieg und Erlofgschancen vermitteln, egal, woher sie kommen - und die meisten Argentinier*innen kommen nicht aus besonders reichen Verhältnissen. 


Und ich denke, dass für dieses Land, das sich in einer dauerhaften Wirtschaftskrise befindet, das seit Jahrzehnten mit unvorstellbaren Inflationsraten zu kämpfen hat und in dem so viele Menschen in Armut leben, Fußball eine Konstante ist, in der es gut ist. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich erlebe oft, dass die Menschen manchmal abwertend über ihr eigenes Land sprechen, nicht, weil sie es grundsätzlich nicht mögen, sondern weil gefühlt irgendwie nichts so richtig gut funktionieren will. Die Gründe dafür befinden sich irgendwo in den Verwicklungen von Geschichte, Politik und Wirtschaft und ich bin als deutsche Freiwillige, die sich seit knappen sechs Monaten in diesem Land befindet, ganz sicher nicht in der Lage, sie zu überblicken. Aber ich erlebe, dass die argentinische Gesellschaft sich häufig selbst schlechtredet, weil in ihrem Land so viele Dinge so wahnsinnig schieflaufen.

Und beim Fußball ist das anders. Maradona und Messi sind zwei der bekanntesten Namen der Geschichte dieses Sportes und Argentinien hat sie hervorgebracht. Der erste Satz des Wikipedia-Artikels lautet "Die argentinische Fußballnationalmannschaft der Männer ist mit drei Weltmeistertiteln (1978, 1986 und 2022) und drei Vize-Weltmeistertiteln (1930, 1990, 2014) eine der erfolgreichsten Fußballnationalmannschaften der Welt."

Ich bin nicht in Argentinien aufgewachsen, deshalb kann ich nur mutmaßen, aber ich stelle mir vor, dass dieser Satz, auch wenn es "nur um Fußball geht", sehr viel Stolz auslöst, besonders, weil es ansonsten nicht so wahnsinnig viele Felder gibt, in denen Argentinien als das erfolgreichste Land gilt.


Ich konnte den Stolz und die unfassbare Leidenschaft der Argentinier*innen jedenfalls sehr eindrucksvoll spüren, als ich in Mar del Plata unter Palmen beim größten Public Viewing des Landes das Viertelfinale mit Nachspielzeit und Elfmeterschießen mit ihnen durchlitten habe. Und noch viel mehr, als meine Arme in der Nachmittagssonne verbrannten, während ich vor einer Bar in Quilmes saß, mit Herzklopfen auf den zu dunklen Bildschirm starrte und tatsächlich richtige Angst davor in mir aufkam, dass alle diese blau-weiß gestreiften Menschen um mich herum mit ansehen müssen, wie ihre Mannschaft das Finale ein weiteres Mal verliert.


Das Bewusstsein dafür, wieviel an dieser WM in Quatar so problematisch und grausam war, unterschied sich von Mensch zu Mensch sehr stark. Mitfreiwillige haben mir erzählt, dass es in ihren Projekten teilweise große Ansprachen gab, die all das thematisierten, insgesamt hatte ich aber das Gefühl, dass es kein großes Thema war. Und selbst die Menschen, die sich über die Situation in Quatar bewusst waren, zogen daraus nicht die Konsequenz, die WM zu boykottieren oder sich persönlich moralisch positionieren zu müssen - was ich ausdrücklich nicht in irgendeiner Form bewerten möchte.


Was ich bewerten möchte - und zwar sehr positiv - war alles, was nach dem Finale passierte. Ich nehme an, die wenigsten von euch haben dieses Spiel verfolgt, aber glaubt mir, wenn ich euch sage: Es war dramatisch. Und zwar sehr. Es war wirklich qualvoll, sich diese Partie umringt von Argentinier*innen anzusehen, aber dann auch umso großartiger, als die Erlösung kam. Argentinien ist Weltmeister. Das erste Mal seit 37 Jahren. Alles, was 2 bis 4 Reifen und eine funktionierende Hupe hat, fährt lautstark mit zu vielen Mitfahrer*innen vollgestopft durch die Straßen von Quilmes. Im nationalen Fernsehen wird die Pokalverleihung mit den Worten "¡Somos campion mundial carajo!" ("Wir sind Weltmeister fuck!") kommentiert. Auf der nächsten Plaza stapeln sich förmlich die Menschen, von denen ein nicht so geringer Teil sich entscheidet, auf das Vordach der Starbucks-Filiale an der Ecke, und als dort nichts mehr frei ist, einfach auf den nächstgelegenen Baum, zu klettern. Alle, egal ob sie sich auf Vordächern, Autodächern oder dem sicheren Boden befinden, sind regelmäßig gezwungen, in die Luft zu springen, wenn die Masse "El que no salta es un ingles" ("Wer nicht springt, ist Engländer", das bezieht sich auf den Konflikt um die Falklandinseln) singt, sodass gefühlt ganz Quilmes immer wieder erdbebenähnlich erzittert. Die Lärmkulisse besteht aus Gesängen (von denen wir Deutschen ein paar wenige ganz stolz korrekt mitsingen können), unterschiedlichsten Trommeln, die Menschen von zu Hause zum Feiern mitgebracht haben, hin und wieder dem knallen einer blauen oder weißen Rauchbombe und dem Zischen von tausenden Kunstschnee-Spraydosen. Dieses schaumige weiße Zeug wird überall in die Luft gesprüht, sodass alle Menschen nach sehr kurzer Zeit weiß gesprenkelt sind.

Beim Public Viewing in Mar del Plata.


In dieser Atmosphäre haben wir den gesamten Nachmittag verbracht - bestimmt fünf Stunden - ohne, dass es langweilig wurde. Im Gegenteil, es ist beeindruckend und überwältigend, wie dieses Land feiern kann. Zwischendurch wird die Freude durch kurze Angstzustände unterbrochen, wenn das Vordach des Starbucks so sehr bebt, dass es jederzeit durchzubrechen droht, oder wenn eine vierköpfige Familie die Sitzfläche eines Motorrads teilt. Aber es war wirklich fantastisch!

Und auch, wenn ich immer noch sofort mit jeder und jedem die Diskussion darüber aufnehmen würde, wie falsch diese WM an so vielen Stellen war, habe und werde ich diese großartige Erfahrung in Argentinien von den Missständen in Quatar trennen, weil ich gesehen habe und sogar ein bisschen mitfühlen durfte, wie unglaublich viel dieser Sieg den Menschen hier bedeutet.


Der Satz "Plata y miedo nunca tuvimos", also "Geld und Angst hatten wir nie", bezieht sich übrigens nicht nur auf die WM, sondern ist fast wie ein argentinisches Sprichtwort, und ich finde ihn ziemlich beeindruckend. 

Kommentare

  1. Es ist immer wieder schön durch deine Blogeinträge in deine Welt einzusteigen. Selbst wenn nur für einen kurzen Moment. Ich gönns dir, so verwerflich die WM auch war, ich bin froh, dass du sie aus Perspektive des Siegerlandes miterleben durftest! Danke für den tollen Einblick!!
    LG Christine :)

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  2. Cooler Text und alles, aber...Maradona mit zwei "n"? Hoffentlich liest das kein Anhänger der Albiceleste :D genieß die letzte Urlaubswoche! Und viele Grüße an Leo, sobald ihr zurück seid!
    LG Paul

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  3. Was Fußball betrifft haben wir was gemeinsam! ;-)

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