Kulturschock

Ich sitze im Wartebereich eines großen Krankenhauses. Seit einer knappen Stunde. Und ich muss sagen, es sieht anders aus als bei meinem Hausarzt in Montabaur. Verglaste Wände, kleine graue Sofas auf weißem Boden und ein moderner halbrunder, glänzender Thresen, an der Eingangstür Securitypersonal.
So habe ich Quilmes bisher nicht kennengelernt, aber ich befinde mich auch in einem privaten Krankenhaus. Es gibt auch öffentliche, kostenlose Krankenhäuser, die aber laut meiner Koordinatorin Rosi häufig schlecht versorgt sind und nicht alle Untersuchungsmöglichkeiten bieten können. Also warte ich jetzt hier, habe vorhin 4900 Pesos (ca. 16 Euro) für die Untersuchung bezahlt, die hoffentlich demnächst beginnt, und frage mich, ob es eine dumme Entscheidung war, Rosi zu sagen, dass ich es alleine versuchen werde. Bisher hätte es schlimmer laufen können, ich bin in nur zwei falschen Gebäuden gelandet und musste - endlich im richtigen Bereich angekommen - den Mann an der Rezeption nur bei drei (der insgesamt fünf) Fragen bitten, sie mir noch einmal zu stellen.


Haha, jaja. Ich war jung und naiv... Ich wusste noch nicht, dass in diesem Moment, in dem ich mir sinnvollerweise dachte, ich könnte die Wartezeit nutzen, um einen neuen Blogeintrag anzufangen, noch weitere vier Stunden dieser Wartezeit vor mir lagen. Dass ich nach fast fünf Stunden zu einer Ärztin in einen kleinen Raum eintreten würde, die mir einige Fragen stellen und dann zwei Zettel in die Hand drücken würde, darauf die Untersuchungen, die ich irgendwo in diesem unübersichtlichen Krankenhaus machen sollte. Dass diese Untersuchungen jeweils 8000 Pesos kosten würden, die ich nicht mit Kreditkarte bezahlen könnte, weshalb ich mit mittlerweile großem Hunger und Durst nochmal nach Hause laufen müsste, um dort mehr Bargeld zu holen. An diesem Punkt habe ich entschieden, Rosi doch nach Unterstützung zu fragen, weil ich leider auch nur die Hälfte von dem verstand, was der Mann am Tresen mir zu erklären versuchte. Ich konnte mich also, wieder am Krankenhaus angekommen, Gott sei Dank mit Rosi treffen, die mich für den Rest meiner ärztlichen Odyssee begleitete. Nachdem auch sie immer wieder nachfragen musste, wo genau wir hinmüssen, wurde mir dann endlich Blut abgenommen. Ich war kurz irritiert, als die Krankenpflegerin dafür meinen Arm mit einem Einweghandschuh abband, beschloss aber, das einfach zu ignorieren. Und nach weiteren ein einhalb Stunden hatte ich dann auch eine Urinprobe und einen Ultraschall hinter mir.

Jetzt also zurück zur ersten Ärztin - deren Schicht durch die ganzen Verzögerungen natürlich längst beendet war. Also nochmal nachfragen und zu einer anderen Ärztin, die sich alle Ergebnisse anschaut und sagt, dass ich laut diesen eigentlich völlig gesund sei. Juhu.

Ich mache es kurz: Ich habe wohl eine Magenschleimhautentzündung, die dazu führt, dass ich mich seit Tagen nur noch von gekochtem, ungewürztem Gemüse, Reis, Nudeln, Haferflocken und Zwieback ernähren darf. Bei Milchprodukten, Zucker, Fett und den meisten Sachen, die so kulinarisch Spaß machen, meldet sich sofort mein Bauch mit mehr oder weniger starken Schmerzen, die er aber auch ohne diese Zutaten offenbar nicht ganz weglassen kann.

Und jetzt, da ich nur so eingeschränkt und relativ witzlos essen kann, fällt mir natürlich auf, dass irgendwie fast alle sozialen Interaktionen sich um gemeinsames Essen herumschlängeln. Komm, wir gehen zusammen frühstücken! Oder brunchen oder Abendessen oder Eis essen oder wir bestellen uns was Leckeres - oder wir kochen was gemeinsam! Oder wie wärs mit Cookies backen? Beim Trinken wirds leider auch nicht besser: Kaffeetrinken oder auf ein Bier in eine Bar oder doch ein entspannter Wein zu Hause? Oder wir gehen feiern - natürlich mit Vorglühen! Irgendwie muss man richtig kreativ werden, wenn man Dinge unternehmen will, bei denen Essen oder Trinken keine Rolle spielen.


Ich gebe mir dabei aber trotzdem Mühe, weil ich nach dieser unheimlich langweiligen Woche Nichtstun wirklich wieder was unternehmen will. Ich habe es vor meinem Abflug tausend mal gehört und in Grafiken gesehen: In einem Auslandsjahr ist die typische Stimmungskurve in der ersten Zeit ziemlich hoch und fällt dann irgendwann sehr stark ab. Ich befürchte, in diesem kleinen Loch befinde ich mich gerade.

Ein Auslandsjahr in Argentinien: Abenteuer, viele Erfahrungen, alles ist neu und spannend und wir sind jung! Naja, ja... Aber wir arbeiten auch Vollzeit und haben mittlerweile einen Alltag, zu dem auch immer wieder langweilige, ereignislose Wochenenden gehören - besonders, weil es noch immer eine echte Herausforderung ist, hier junge Leute in unserem Alter kennenzulernen. Gerade kommt mir alles irgendwie viel anstrengender vor als in Deutschland:

Du möchtest dir ein bestimmtes Lebensmittel kaufen - das gibt es hier vielleicht nur in bestimmten Läden oder wenn du Pech hast gar nicht.

Du gehst im Supermarkt einkaufen - und erlebst an der Kasse immer noch und zum 100. Mal eine unangenehme Situation, weil du die Frage des Kassierers oder den Preis nicht richtig verstehst.

Du möchtest für die Wohnung ein Sofa besorgen, damit ein bisschen mehr WG-Leben entstehen kann - ein Neues ist für ein Jahr ganz schön teuer und Gebrauchte gibts nur online, im Austausch gegen eine argentinische Personalausweisnummer, die wir natürlich nicht haben.

Du willst am Wochenende feiern gehen - ALLES öffnet frühestens um 12 Uhr nachts, sodass man meistens müde ist, bevor man überhaupt losgehen kann. 

Du willst mal eben Mitfreiwillige in Buenos Aires besuchen - tja, die sind zwar in der gleichen Stadt, diese Stadt ist aber 15 Millionen Einwohner groß und du brauchst ein einhalb Stunden für den Weg. 

Das sind eigentlich Kleinigkeiten und ich lebe auch seit drei Monaten mit ihnen, sie beginnen aber gerade viel mehr als bisher, mich zu nerven. Aber auch das gehört wohl alles dazu - und ist der eigentliche, echte Kulturschock, der gar nicht sofort am Anfang stattfindet.


Dass ich mich gerade in diesem Tief befinde, hat aber auch etwas Positives: Ich habe mein Abschiedsbuch geöffnet und mich wahnsinnig über alle eure wunderbaren Einträge gefreut! Ehrlich, ihr habt an dem Abend, an dem ich es gelesen habe, meine Laune ordentlich in die Höhe geschraubt und ich musste ganz viel lächeln, grinsen und auch laut loslachen. Euch allen, die mir etwas in dieses Buch geschrieben haben, tausend Dank für die Mühe und Gedanken, die ihr in eure Einträge gesteckt habt! Ich werde sie in den nächsten neun Monaten sicher noch ein paar mal lesen und mich immer wieder über jeden einzelnen freuen

Kommentare

  1. Liebe Maren, es ist total spannend, das alles zu lesen. Andere Länder, andere Sitten sind erst zu verstehen, wenn du dort bist. Da kannste noch so viel lesen vorher. Das ist das spannende dran. Ich bin neugierig auf deine Erlebnisse und freue mich , noch ganz viel von dir zu lesen. Gabi

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  2. Ich finds großartig, dass du durchziehst und einen mehrheitlich negativen Eintrag verfasst. Da gehört einiges zu! Guude Besserung y ¡tiempos van a cambiar!...oder so. Ganz liebe Grüße, du bist und bleibst die beste Schwester, die ich jemals hatte!
    LG Paul

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  3. Auf den Tüten stand früher einmal: Esst mehr Früchte und ihr bleibt gesund. Und Gemüse gehört auch zu dieser Kategorie.
    Zu scharf, zu salzig, zu fett, zu süß: da bleibt nur ein wenig Geduld, das vertragen unsere mittteleuropäischen Mägen nicht!
    Gute Besserung
    Opa Bernd

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