Papa, Papa, ich hab einen Piercing! oder ¡AAAAYY QUE LIIIIIIIIIIIINDOOO!

 Wir hatten gestern früher Schluss und am Nachmittag nichts zu tun, also sind meine Mitbewohnerin Angela und ich eben zum Piercer gegangen.

Hier haben tatsächlich sehr viele Menschen einen Nostril, also einen Ring an einer Seite der Nase, und ich dachte, wenn ich schon ständig mit meinen blonden Haaren, blauen Augen und mittelmäßigen Sprachkenntnissen auffalle, muss ich mich in anderen Dingen einfach mal anpassen. Nein, natürlich nicht, ich hatte einfach Lust drauf und bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis - und es war ein Anlass, zu dem ich dachte, dass ich doch mal wieder einen Blogeintrag schreiben könnte, um euch auf dem Laufenden zu halten. 

Das mit dem Auffallen ist übrigens schon so eine Sache. Jegliche Verkäufer*innen in  Läden oder Marktständen fragen spätestens nach dem zweiten Satz: "Du bist nicht von hier oder? Woher kommst du?" Und wenn ich ihnen dann erkläre, dass ich aus Deutschland komme und ein Jahr lang für meinen Freiwilligendienst hier bin, schaffen es wirklich ausnahmslos alle, exakt gleich zu reagieren: Ein großes Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit, die Hände werden zusammengeschlagen und die um zwei Oktaven erhöhte Stimme ruft "¡Aaaayy que liiiiiiiiindooo!" ("Ooooh, wie schöööööön!"). Das ist natürlich wahnsinnig nett und süß, aber Angela hat letzte Woche mit einer Mitfreiwilligen dann doch etwas genervt von dieser ständigen leichten Hysterie angefangen, zu behaupten, sie seien Argentinierinnen, und ich kann es ihnen nicht verübeln.

Und ich habe einen Park entdeckt! Das klingt für euch Deutschland-hier-gibts-in-jeder-Stadt-zwei-Parks-die-aussehen-wie-ein-ganzer-Wald-verwöhte Menschen vielleicht nicht so wahnsinnig aufregend, aber Buenos Aires besteht wirklich aus viel Beton. Und wenig Grün. Ich bin schon fast davon ausgegangen, dass ich mich tatsächlich ein Jahr lang mit den etwa 10 mal 10 Meter großen, grasigen Plazas abfinden muss, die hier alle paar Blöcke mal eingestreut werden. Aber ich muss nur 3 Kilometer laufen, um zu einem Park zu kommen, der sich ungefähr über 6 Blöcke erstreckt, und in dessen Mitte es sogar ein kleines, offenes Amphitheater gibt.


Ansonsten ist eigentlich Vieles beim Alten und es stellt sich sowas Ähnliches wie ein Alltag ein, ich arbeite vormittags in der Bäckerei und nachmittags mit den Kindern, zu denen ich langsam auch einen Draht aufbauen kann. Und auch das Castellano ist zwar noch sehr anstrengend und schwierig, aber ja, ich merke Fortschritte und kann mich schon deutlich besser unterhalten als noch vor ein paar Wochen. Ich glaube, mittlerweile haben die meisten meiner Kolleg*innen sogar gemerkt, dass ich einen richtigen Charakter habe. Und dass es in ganz seltenen Fällen vorkommen kann, dass ich sogar ein kleines bisschen lustig bin.

Generell muss ich sagen, dass ich die Fundación Angelelli, die die Zentren ins Leben gerufen hat, immer toller finde, je mehr ich von ihr mitbekomme. Es gibt auf die insgesamt fast 30 Zentren verteilt wahnsinnig viele Angebote für die Familien, die in der unmittelbaren Umgebung wohnen. Workshops für Kinder, für Jugendliche, für Frauen und für Immigrant*innen, es werden Themen wie Mobbing, Gewaltprävention und sexuelle Aufklärung angesprochen, (Floh-) Märkte, Vorträge, Lesungen und Bingosamstage organsisiert, es wird Geld für Ausflüge zusammengetrommelt und den Menschen aus dem jeweiligen Viertel kostenloses Essen zur Verfügung gestellt. Das wäre an sich schon großartig, was dieses Projekt für mich aber wirklich beeindruckend macht, ist, dass diese ganzen Zentren von Menschen geschmissen werden, die selbst in genau denselben Umständigen leben, wie die Menschen, denen sie mit ihrem Angebot helfen. Meist sind es mehr oder weniger ganze Familien, die dort arbeiten und die, im Fall vom 'Colectivo de la Esperanza' (also meinem Zentrum) häufig wenige Meter entfernt vom Zentrum wohnen - und damit direkte Nachbarn von den Menschen sind, die nachmittags zur Essenverteilung kommen und deren Häuser genauso klein, unverputzt und kaputt sind.

Umso trauriger und frustrierender ist es für uns, immer wieder mit Menschen aus dem Zentrum oder der Nordzone von Buenos Aires in Kontakt zu kommen, die der Südzone - zu der Quilmes und Florencio Varela gehören - unfassbar misstrauen, obwohl sie in vielen Fällen in ihrem gesamten Leben noch nie dort waren. Wenn ich es nicht besser wüsste und nur den Menschen aus Capital und der Nordzone vertrauen würde, hätte ich mittlerweile den Eindruck, die gesamte Südzone sei ein einziges gefährliches, kriminelles Nest, in dem jeder Mensch eine Gefahr ist und das man am besten grundsätzlich meiden sollte. Ja, wir werden vom und zum Bahnhof begleitet, weil wir im Viertel "unbekannt" sind und ja, es gibt Zonen, in die wir einfach nicht gehen sollen. Aber bisher habe ich hier Mütter und Väter kennengelernt, die sich trotz all ihrer eigenen Probleme dazu entscheiden, anderen zu helfen, Jugendliche, die nach der Schule in den Zentren aushelfen, und Kinder, von denen ich viele wahnsinnig nett und beeindruckend sozialkompetent finde, sowohl mit den Educadores (den Mitarbeiter*innen, die die Workshops leiten) als auch untereinander.

Und dann immer wieder gefragt zu werden, warum man denn als Deutsche nicht in Capital wohnt und was zum Teufel man in Quilmes macht, ist schon ziemlich traurig, zumal wir ja so nah an der Lebensrealität der Menschen hier und in Florencio Varela sind und gleichzeitig natürlich wahnsinnig weit von ihr entfernt.

Hier also nochmal für alle, die es hören oder nicht hören wollen: Ich als Deutsche wohne sehr gerne in Quilmes und arbeite sehr gerne in Florencio Varela. Und ich freue mich wahnsinnig, dass ich in diesem tollen Projekt mithelfen darf und bin dankbar für alle Menschen, die ich dort kennenlerne und die sich immer noch stockend mit mir unterhalten, die mir jeden Tag aufs Neue ihren Mate anbieten, die mich mit ungesundem Essen vollstopfen und die mit mir den Weg vom Bahnhof zum Zentrum und zurück laufen, obwohl sie eigentlich direkt gegenüber wohnen.

Also, ich bin froh, dass ich hier bin und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das so schnell ändert. 



Kommentare

  1. Aye que lindo, Mareeen, wirklich!
    Danke für den schönen Blockeintrag. I am routing for you!!
    LG
    Chrissy

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  2. Ich denke jemand, der von Herzen lustig ist, ist es in jeder Sprache auf unterschiedliche Art und Weise. Und du bist sicher muy cómica en Español (und ja ich musste einen Teil davon googlen), aber den Spaß wollte ich mir nicht nehmen lassen, auch wenn die Chance besteht, dass man das so gar nicht sagt haha. Dass die Leute so herzlich zu sein scheinen, freut mich sehr für dich! Und so freuen sie sich sicher auch, dass du so gerne dort bist.
    Liebe Grüße,
    Luc

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  3. Komm du nach Hause! Ein Piercing, wo kommen wir denn da hin? Was solln die Nachbarn sagen? Da muss ich mich ja schä....nee muss ich net!
    Wie schön, dass es dir so gut geht.
    Und das andere klären wir später...
    Papa

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  4. Richtig schön, mal wieder von meinem Lieblingsblog zu lesen! Klingt großartig, was du da so machst; Piercing top, Angelelli mega, Kinder hammer, Castellano estupendo, Land und Leute geil, Nordzone pfui!
    Keep doing what you're doing!
    Paul

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