Viel zu erzählen, viel zu wenig Zeit

Okay, wie fange ich jetzt an?

Ich glaube, "Unterschiede" ist ein gutes Stichwort. Ich bin jetzt seit gut einer Woche in Buenos Aires (was ich immer noch gar nicht fassen kann, obwohl mein Kopf sich meiner Meinung nach jetzt doch mal so langsam damit abfinden könnte) und natürlich war mir klar, dass Vieles anders sein wird, als mein westerwäldermittelstandsverwöhntes Gehirn es so kennt. Aber - und ich weiß, es ist ein generischer Satz - es ist eben doch überraschend, wenn man es tatsächlich (er)lebt. Manchmal schockierend, manchmal auch lustig und manchmal total schön, es führt jedenfalls dazu, dass mein Kopf auch nach über einer Woche noch vor neuen Eindrücken dauerhaft ganz knapp an der Überforderung vorbeischrammt.

Erstmal ein paar Fakten, um euch mit meiner aktuellen Situation bekannt zu machen:

1. Hier trinken alle ständig Mate. Wirklich. Alle. Ständig.

2. Hier ist es im Winter wirklich kalt. Leider ist gerade Winter.

3. Hier gibt es sehr schöne Sonnenuntergänge - im Moment leider schon um halb 7.

4. Wir haben auf dem Vorbereitungsseminar viel Programm und wenig Schlaf.

5. Ich wohne mit 14 Mitfreiwilligen in einem Pfarrhaus.

6. Wir schlafen auf Matratzen auf dem Boden, vier von uns - darunter ich - im Esszimmer und teilen uns mit 15 Menschen anderthalb Bäder.

7. Seit gestern funktioniert der Gasofen relativ zuverlässig.

8. Busfahrer lassen sich hier weder von Vorfahrtsregelungen, noch von Zeitplänen oder geöffneten Türen während der Fahrt beirren. 

9. Ich freue mich auf ein gutes frisch belegtes Körnerbrötchen von einem deutschen Bäcker im August 2023.

10. Ich finde es großartig.


Alle Aktivitäten auf unserem Seminar zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen, ich kann mich ja so schon nicht besonders kurz fassen. 

Aber ich war bei Unterschieden.

Für uns ist alles wahnsinnig billig. 1 Euro sind ungefähr 300 Pesos - wobei die Inflation bei 71% liegt und der Kurs so sehr schwankt, dass diese Info morgen schon veraltet ist. Das bedeutet für uns, dass wir uns täglich Frühstück, Mittag- und Abendessen für umgerechnet jeweils höchstens 3 Euro kaufen (Unsere Küche ist zu klein, um mit so Vielen darin kochen zu können und meistens haben wir dazu auch keine Zeit). Das ist natürlich einerseits sehr angenehm und nett, aber wir stellen alle fest, dass wir uns auch wahnsinnig schlecht dabei fühlen. Wir leisten uns hier alles nebenbei, kaufen uns ständig Snacks und Dinge, die wir uns in Deutschland nicht mal eben jeden Tag mitnehmen würden und natürlich wissen wir genau, dass sich die Menschen, die hier leben, diese Einstellung überhaupt nicht leisten können - ganz besonders nicht die, mit denen wir in unseren Projekten in Kontakt kommen werden. 

Apropos Projekt: Ich habe heute meine Einsatzstelle kennengelernt! Wir durften die Projekte im Großraum Buenos Aires besuchen und wir hatten das Glück, dass zwei der vier Zentren der Fundacion Angelelli dabei waren. Meine drei zukünftigen Mitbewohner und ich werden auf diese vier Kinder- und Jugendzentren aufgeteilt, die in dem sehr prekären Viertel Florencio Varela in der Südzone von Buenos Aires liegen. Zu ihrer genauen Arbeit und meinen Tätigkeiten dort berichte ich dann, wenn ich wirklich mit der Arbeit angefangen habe und mir selbst einen Überblick verschaffen konnte.

Aber eine kleine Zusammenfassung meiner ersten Eindrücke gebe ich gerne zum Besten, also, falls es euch interessiert und ihr ein paar Minuten Zeit habt, holt euch einen Tee oder Kaffee oder Mate oder was ihr sonst so gerne trinkt, ich muss ein kleines bisschen ausholen. 

Wir sind bei unserer Aufnahmeorganisation, der IERP (Iglesia Evangelica del Rio de la Plata), ungefähr 60 Freiwillige, die während der zwei Wochen Seminar in verschiedenen Unterkünften untergebracht sind. Das Gebäude der IERP, in dem die Aktivitäten stattfinden, liegt in Belgrano, einem der reichsten Viertel von Buenos Aires und auch einige andere Unterkünfte liegen in sehr wohlhabenden Vierteln. Wir wohnen in Villa Ballester, ein Viertel, dem man bei einem Gang durch die Straßen deutlich ansieht, dass es  eine ärmere Gegend ist. Natürlich ist es nicht wirklich vergleichbar, aber ihr könnt es euch äußerlich auf einem ähnlichen Level vorstellen, wie die prekärsten Viertel von vielen deutschen Großstädten. Heute habe ich sehr eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen, dass auch das noch eines der reichsten Viertel dieser gigantischen Stadt ist.

In Florencio Varela, wo wir arbeiten werden, sind die meisten Straßen nicht geteert oder asphaltiert und immer wieder meterweise mit stinkendem Abwasser bedeckt. Es ist schwierig, ein Haus zu finden, dem nicht mehrere Fenster fehlen oder das nicht an mindestens zwei Stellen offensichtlich kaputt ist, einige Hauseingänge bestehen statt einer Tür nur aus Tüchern. Die meisten Häuser sind von Zäunen umgeben und die wenigen Läden, an denen wir an diesem Freitag Mittag vorbeigelaufen sind, waren geschlossen und mit Gittern verriegelt. Von den Bürgersteigen, mitten auf den Straßen und von den Dächern der meist einstöckigen Häuser schauten uns unzählige streunende Hunde an.

Ich würde Villa Ballester, unser Wohnviertel, vielleicht als "ranzig" beschreiben.  Florencio Varela ist eine völlig andere Realität.

Und zwischen alldem steht ein bunt bemaltes und beschriebenes Haus, in dessen Außenbereich ein paar Jugendliche Fußball spielen, in dessen Küche einige Kinder gerade sehr ungesunde, sehr große, sehr süße Kekse backen und in dem wir alle einzeln mit "beso" (einem Kuss auf die Wange), selbst gemachter Pizza und Süßgebäck empfangen werden. Ja, es klingt kitschig, aber das war tatsächlich mein Eindruck. Und ich freue mich unglaublich darauf, bald ein Teil dieses bunten, herzlichen Angebotes sein zu dürfen.

Unterschiedlich also. Fast ein zu harmloses Wort, um zu beschreiben, welche Realität ich kenne und in welcher Realität Kinder hier aufwachsen.

Und andere Umstände bringen natürlich andere Menschen hervor. Wir wurden heute viel angestarrt, ob mit positiven oder negativen Hintergedanken, konnten wir nicht erkennen. Wir sind ab jetzt auf jeden Fall "die Reichen" und das fühlt sich ziemlich komisch und irgendwie unangenehm an. Deshalb werden wir auch nicht in Florencio Varela wohnen, sondern in Quilmes, einem benachbarten Viertel, das auch in der ärmeren Südzone liegt, aber deutlich unproblematischer, lebendiger und urbaner ist. Aber ich freue mich wahnsinnig auf die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen und bin sehr dankbar, dass ich ein Jahr lang  Teil dieses bunten und herzlichen Angebotes sein darf. 

So, jetzt ist es irgendwie schon ganz schön spät und es wäre sehr sinnvoll, mich noch ein bisschen enger in meinen Schlafsack einzuwickeln und zu hoffen, dass es morgen früh, wenn ich aufwache, nicht ganz so kalt ist wie heute. Ich hoffe, euer Getränk ist mittlerweile auch leer und ich hoffe vor allem, dass ich euch ein bisschen in meine Gedanken mitnehmen konnte. 

In diesem Sinne: ¡Buenas noches! 



Kommentare

  1. Sehr anschaulich Deine Texte. Das u.a. auch argentinische Nationalgetränk Mate hatte ich 1956 zu meinem Lieblingsgetränk gewählt. Mit etwas Zitrone besonders erfrischend am heißen Ofen
    ( 1200 Grad) in der Gipsfabrik.
    Opa B.

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