Eingeschlafene Beine, Serienvergleiche und Reisegedanken

10. August 2022

Für diesen Moment habe ich anderthalb Jahre gelebt.

Jap, ich bin ein bisschen dramatisch, aber dieser Gedanke geht mir jetzt seit Stunden nicht aus dem Kopf. Während ich im Auto saß, aus den Lautsprechern der Liveauftritt von Adele in der Royal Albert Hall lief, mein Papa wahrscheinlich bei jedem neuen Lied auf die Erlösung von meinem mittelmäßigen, aber nicht zurückhaltenden Mitsingen hoffte, und jedes Mal aufs Neue enttäuscht wurde - Vielen Dank fürs Fahren (und die ganze Fahrt Aushalten) an der Stelle, Papa! - kam dieser Gedanke und bleibt wohl, so wie es aussieht, mein Reisebegleiter.

Auf meinem ersten Flug von Frankfurt nach Amsterdam setzte sich eine Frau aus Mexico neben mich, die kurze Zeit später parallel zu mir anfing, an ihrer Nagelhaut zu knibbeln. Diese unglaublich nervige und früher oder später immer in Schmerzen und blutenden Fingern endende Eigenschaft hat uns wohl ein so starkes Verbundenheitsgefühl gegeben, dass wir uns dann den ganzen Flug lang unterhalten haben, das war großartig (übrigens auf deutsch, ihre Deutschkenntnisse waren um ein Vielfaches beeindruckender als meine Spanischkenntnisse)! 

Jetzt ist es 03:26 Uhr und dieses wahnsinnig coole Tool auf dem Bildschirm vor mir behauptet, wir wären irgendwo über dem Atlantik so in etwa auf der Höhe von Mauretanien und der Dominikanischen Republik. 

Man muss sagen, dafür, dass ich behaupte, für diesen Moment anderthalb Jahre gelebt zu haben, ist er wahnsinnig unspektakulär. Ich sitze mit einer vor Geschmacksverstärker triefenden Pasta im Magen zwischen zwei meiner schlafenden Mitfreiwilligen, höre die gleiche Musik, die ich seit Wochen höre (ja, Papa, es ist immer noch Harry Styles) und versuche, meine Füße auf dem Haltenetz des Sitzes vor mir zu balancieren, um mal in einer anderen Position zu sitzen - ich hätte wirklich nicht gedacht, dass fehlende Beinfreiheit jemals ein relevantes Thema für mich wird! Aber wenn ich so darüber nachdenke, macht mich so ziemlich alles an dieser Situation sehr glücklich, selbst meine langsam einschlafenden Beine und der eindeutig schlechte Atem unter meiner Maske.

Ich war aus unserer Gruppe an Freiwilligen die Letzte, die am Flughafen Amsterdam ankam, und meine Stimmung unterschied sich von der der Anderen, als ich zu ihnen stieß. Mir blickten einige eher müde lächelnde Gesichter entgegen, als ich ihnen zur Begrüßung glaube ich so etwas wie "Wuuuuh, habt ihr Bock?!!" entgegenrief - ich kann es ihnen nicht verübeln, die Meisten von ihnen hockten schon seit vielen Stunden am Flughafen, und zugegebenermaßen war auch die Begrüßung vielleicht nicht meine größte Glanzleistung.

Aber vielleicht liegt es auch an meiner  Ausgangssituation. 18 Wochen hat diese Tagerunterzählapp angezeigt, als ich sie heruntergeladen habe. Und heute durfte ich endlich "Weniger als 1 Tag" lesen. Und ehrlich gesagt fühlt es sich an, als wäre ich einen laaaaaaangen Marathon gelaufen (wobei das wahrscheinlich wirklich noch schlimmer gewesen wäre). Ich übertreibe natürlich, es ist nicht so, dass meine letzten anderthalb Jahre furchtbar waren, ich hatte viele schöne Momente. Aber - und leider ist dieses Aber größer als ich es mir wünschen würde - sie haben sich eben angefühlt wie eine Reihe von Füllerepisoden in einer Serie. Das Ding ist, es gibt ziemlich miese Füllerepisoden und es gibt sehr gute Füllerepisoden, aber sie haben immer gemeinsam, dass sie existieren, um auf den nächsten tatsächlichen Handlungspunkt hinzuarbeiten und um Zeit zu füllen, jedenfalls gibt es sie immer nur für die darauffolgende Episode und sie werden niemals so gut sein wie sie, weil sie keinen Selbstzweck erfüllen.

So, Poesiemodus aus, es tut mir leid, ich habe ein halbes Jahr Deutsch Unterrichten durchgemacht, das ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Aber ich glaube, ihr versteht den Punkt. Ich musste die Zeit seit meinem Abi im März 2020 in dem Wissen füllen, dass ich eigentlich nur auf meinen Freiwilligendienst in Argentinien warte, der sich wegen Corona um ein Jahr verschoben hat und das hieß für mich, ich würde anderthalb Jahre mit einem Plan B verbringen, den ich eigentlich nicht hatte, und der nicht das war, was ich eigentlich wollte. Und manchmal hat das einfach keinen Spaß gemacht. Aber ich will gar nicht rumheulen, auch wenn es immer wieder ätzend war, habe ich meine Entscheidung, auf diesen Freiwilligendienst zu warten, keine Sekunde bereut. Außerdem habe ich diesen langen und anstrengenden Marathon an Füllerepisoden ja jetzt hinter mir und bin in der wahnsinnig großartigen Situation, zu wissen, dass alles, was jetzt kommt, auf jeden Fall besser wird.

Und ich glaube, deswegen bin ich vielleicht noch ein bisschen euphorischer als manche meiner Mitfreiwilligen und deswegen stören mich gerade weder meine unbequeme Sitzposition noch mein Mundgeruch, weil diese Dinge, so unangenehm sie auch sein mögen, für mich bedeuten, dass etwas passiert, dass sich etwas ändert und dass ich jetzt wieder etwas erleben darf. Und wenn auch sowas dazugehört, dann gibt es nichts, das ich lieber in Kauf nehme, weil ich weiß, dass ich eine großartige Zeit vor mir habe, die besser wird als die Zeit, die jetzt hinter mir liegt.

Und der Gedanke, dass du, wer auch immer du bist, das hier gerade liest und mich durch  mein Gelaber in diesem Jahr begleiten möchte, finde ich zu gleichen Teilen absurd und wunderschön. 

Also, 6 Stunden Flug habe ich jetzt noch vor mir und dann geht mein neues Leben los. Und ich glaube, ich bin seeeehr bereit.


Nachtrag vom 11. August:


 Mittlerweile liege ich auf einer Matratze, die wiederum auf dem Fußboden des eigentlichen Esszimmers unserer WG liegt. Für die ersten zwei Wochen, die wir nochmal mit einem Seminar verbringen, wohne ich mit 14 anderen Freiwilligen in einem Pfarrhaus, aber dazu dann in meinem nächsten Eintrag mehr. Ich bin jedenfalls gut gelandet und nach einem langen, anstrengenden und von Schlafmangel geprägten Tag glücklich, dass ich jetzt endlich schlafen darf, und wahnsinnig gespannt auf die kommenden Tage. 


Kommentare

  1. Es macht sehr viel Freude, deiner Mischung aus " innen und außen" in der Qualität einer biografie zu folgen! Ein Hoch auf dein "neues Leben"!

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  2. Autobiografie meine ich natürlich und groß geschrieben ;-)

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  3. Famos. Vamonos!
    Opa B. und Oma S.

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  4. Schön, auf diese Weise von dir zu hören. Ich werde Adele lange mit dieser Fahrt verbinden...und du hast wunderbar gesungen. Ich habe dich in den letzten Monaten nicht so fröhlich erlebt, wie bei unserem Abschied. Du bist genau da, wo du hingehörst. Ich denk an dich.
    Papa

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  5. Klingt ja eklig mit der Nagelhaut...aber du weißt schon, was du tust. Und ich bin mir sehr sicher, deine Storyline wird der Hammer! Also: Plot Armor anziehen und geile Sachen erleben.
    Paul

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  6. Ach Maren!
    Da kam mir beim Lesen ein kleines Tränchen in die Augen, aber nicht weil du so furchtbar schreibst (haha), sondern weil man die Freude und die Abenteuerlust, die du jetzt empfindest, durch den Bildschirm hindurch spürt... und das macht mich echt froh!!
    Hab Spaß und genieß die Zeit, wir halten die Stellung hier in GER.
    Christine :)

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  7. Hey Maren, das ist der 1. Blog überhaupt in meinem Leben, den ich schreibe (hat mir dein Papa heute Morgen in der oase in einer Räumaktionpause gezeigt!) und ich traue ihm, diesem Blog zu, dass er dich erreicht, vielleicht aber auch nicht. Egal, auch Gedanken können dich erreichen und dir eine gute, spannende, und bereichernde Zeit wünschen. Liebe Grüße - Rita

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  8. Genial, so ein Blog, hab ich noch nie ausprobiert. Danke, dass ich das durch dich kennen lernen kann. Erste Lektion des.lebens=✓ NIEMALS aufgeben und die eigenen Ziele verfolgen, notfalls anpassen, aber dran bleiben. Respekt die Tante Gabi

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  9. Liebe Maren,
    kannst du bitte ein Buch schreiben ? Ich hab noch nie etwas gelesen, was so sehr meinem Humor und Schreibstil entsprach, dass ich es so gerne gelesen habe! (Und ja ich habe alle Einträge, die bisher da sind - wie angekündigt - in einem Abend gelesen haha.) Ich freue mich, von deinem Abenteuer zu hören (natürlich nicht nur weil du so unterhaltsam schreibst)!
    Liebe Grüße,
    Luc

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